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Religiöse Riten in der Praxis – Beschneidungen und andere Traumata

taz.de 03.07.2012

Der irakische Schriftsteller Najem Wali war zwölf, als er in seiner Heimat Amara unters Messer kam. Für die taz erinnert er sich, wie das damals vor sich ging.von Najem Wali

Immer, wenn ich von Beschneidung höre, kommen mir drei Geschichten in den Sinn. Die erste ist vielleicht eine Mischung aus Kitsch und Folklore, die zweite eine der puren Grausamkeit, während die dritte die Verstümmlung einer Seele darstellt.
Ich erinnere mich noch an den Laden und seinen Besitzer. „Barbiersalon Qâsim“, so stand auf einem Holzschild am Eingang des Ladens. Ich kannte Qâsim schon als Kind. Qâsim war ein Mann in den Sechzigern. Man erzählte, dass er als Erster einen Barbiersalon im Ort eröffnet hatte, nachdem er die Kontrollen durch die Polizei und die örtlichen Ordnungsbeamten satt hatte.
Jahrelang hatte er sein Barbiergeschäft auf der Straße betrieben, auf einer Bank in der Nähe des Flusses oder auf einem Stuhl in einem Café. Seine Kunden – die meisten waren Greise – saßen an der freien Luft, wo sie oft von Jugendlichen gestört wurden.

Als man anfing über Hygiene und alles, was an Vorsichtsmaßnahmen damit einherging, zu sprechen, musste er sich neue Geräte anschaffen und einen Laden suchen. Nicht zuletzt unter dem Druck seiner Frau entschloss sich Qâsim, ein kleines unmöbliertes Geschäft am Eingang zum Sûq zu mieten, an der Straße, die zur Schule führte.
Er kaufte einen gewöhnlichen Sessel (ohne verstellbare Rückenlehne) und stellte ihn vor eine Wand, an der ein Spiegel mittlerer Größe angebracht war. Davor brachte er ein Tischchen an, auf dem er seine Geräte ablegte – seine alten Utensilien, unter denen sich natürlich auch ein Fläschchen Kölnischwasser befand, dessen Duft bis auf die Straße drang. Das Sofa, auf dem seine Kunden und pensionierten Freunde Platz nahmen, hatte er von zu Hause mitgebracht.
Bei all meinen Besuchen in dem Salon, sei es um meine Haare von ihm schneiden zu lassen, oder um meinen Großvater dorthin zu begleiten, weil der Salon für ihn ein Treffpunkt war, hatte ich gemischte Gefühle. Einerseits ein angenehmes, andererseits ein beängstigendes Gefühl.
Angenehm, weil ich es schön fand, dorthin zu gehen, um meine ersten Zuhörer zu begeistern. Denn die alten Leute, die dort zum Plaudern saßen, entdeckten früh meine Lust zu erzählen. Dorthin zu gehen, bedeutete für mich eine Gelegenheit, meine Erzählungskünste auszuprobieren, Geschichten zu erzählen, die in der Mehrzahl von mir erfunden wurden, was bei den Greisen erstaunlicherweise auf Aufmerksamkeit stieß, ja ihnen sogar Freude bereitete.
Andererseits hatte ich immer Angst, dass mir passieren würde, was zwei meiner Onkel väterlicherseits passiert ist. Sie starben kurz nach ihrer Beschneidung. Und bei wem? Bei Qâsim.
Früher hatte Qâsim nicht nur das Barbiergeschäft betrieben, sondern auch Knabenbeschneidungen vorgenommen. Er war besonders stolz darauf, die meisten Männer, die später einen Rang in der Gesellschaft oder in der Verwaltung eroberten, beschnitten zu haben.
Auch rühmte er sich dessen bei jeder Gelegenheit vor seinen Rentner-Freunden, die seinen Laden immer mehr zu einem Ort der politischen Diskussion machten, obwohl er ein Pappschild aufgehängt hat, auf dem in krakeliger Schrift politische Gespräche verboten wurden.
Klar, weder meine Großeltern, noch jemand anderer sprach von Qâsims Schuld am Tod meiner Onkel. Man sagte, sie seien an Entzündungen gestorben, sie hätten Fieber gehabt und schließlich war dies der Wille Gottes und nicht etwa die unhygienischen Bedingungen ihrer Beschneidung, oder die nicht desinfizierten, ja primitiven Geräte. Ich war noch nicht beschnitten, als mein Großvater mich zum „Barbiersalon Qâsim“ mitnahm und hatte Angst, dass ich zur Beschneidung bei ihm lande. Damals wusste ich nicht, dass er dies gar nicht mehr betreiben durfte.
Eine Folter für Gott
Am Abend, an dem mein Vater mich zu dem berühmtesten Chirurgen der Stadt brachte, teilte er mir in diesem Moment mit, dass ich beschnitten würde und dieses Ereignis nicht aufgeschoben werden könne. Ich war schon zwölf Jahre alt, und mein Vater hatte lange gewartet, dass ich einen Bruder haben würde, mit dem ich feierlich gemeinsam beschnitten würde. Stattdessen kamen hinter mir drei Mädchen zur Welt. Najem ist alt geworden, sagte man zu meinem Vater.
Ich wusste, dass ich früher oder später beschnitten werden musste, aber trotzdem war ich überrascht und bedauerte den drohenden Verlust meiner Vorhaut, mit der ich vor meinen Freunden angegeben hatte. Ich fühlte mich anders, und auf dieses Privileg wollte ich nicht verzichten. Aber ich musste beschnitten werden. Es gab keinen Ausweg.
An jenem Abend fragte ich meinen Vater, ob der Arzt mich betäuben würde, und er antwortete, dass dies selbstverständlich sei. Doch der Arzt betäubte mich nicht. Ich erinnerte mich noch heute an die Szene: Als ich auf dem Bett lag, ergriff mein Vater mich bei den Armen, ein Kumpel meines Vater bei den Beinen, und dann begann auch schon die Schere des Arztes an meiner Vorhaut herumzuschnippeln. Die Küsse meines Vaters waren der einzige Trost. Aber nein, es war keine Beschneidung, es war meine erste Begegnung mit der Folter. Ich habe geschrien, aber vergeblich. Mein Schrei ging in den Tränen unter, die mir über das Gesicht liefen.
Und dann sah ich ihn: An der herabbaumelnden Kette des Arztes sah ich einen ans Kreuz genagelten Christus hängen. Mein Schmerz ließ nach, als ich an die Nägel dachte, die den gekreuzigten Körper vor mir durchbohrten, denn ich spürte nur einen einzigen Nagel, der meinen Penis zerfetzte. Plötzlich wurde mir bewusst, dass der Mann Sûrîn Salîbâ war, der bekannteste christliche Chirurg der Stadt. War Sûrîn ein Judas? Oder sah Sûrîn einen Judas in meiner Vorhaut?
Ich fand viele Jahre keine Antwort auf diese Fragen, aber eine Gewissheit überwältigte mich an jenem Abend: Um Gott zu gefallen, musste ich gequält werden – auf der Liege in Doktor Sûrîns Praxis.
Das war für mich der Moment, in dem die Religionen einander zu ähneln begannen, und es fiel mir ab da zunehmend schwerer, sie auseinanderzuhalten. Alles hatte sich unter meinen Schenkeln gesammelt und sie besudelt. In jenem Moment wurde mir bewusst, dass jede Macht auf Angst und Folter basiert, und als Sûrîn meine Vorhaut durchtrennte, kappte er meinen Bezug zu allen Religionen und zu jeder Art von Macht.
Die „wahre“ Geschichte
Alle haben sich gewundert, als sie hörten, dass unser Freund „K“ diesmal gezielt eine Frau aus Ägypten geheiratet hat. Keiner wusste den Grund, ich eingeschlossen, bis ich „K“ in London traf. Es war spät nachts, als er mir seine Geschichte erzählte, „die wahre“, wie er mir versicherte.
Ich kann mich weder an die Zahl der Gläser Whisky, die wir getrunken haben, genau erinnern noch an die Zahl der Zigaretten, die wir geraucht haben, besonders er. Aber ich kann mich sehr gut an seine Worte erinnern, an den Schmerz, der auf seinem Gesicht zu sehen war, während er mir seine „wahre“ Geschichte erzählte.
Ich kannte „K“ seit meiner Jugend, seit der Universitätszeit in Bagdad. Er hatte zweimal geheiratet. Das erste Mal im Irak. Das zweite Mal in seinem Londoner Exil. Seine erste Frau, die Irakerin, blieb nicht lange bei ihm. Nach einem Jahr „glücklicher“ Ehe nach außen, aber „der Hölle“ in den vier Wänden, ließ sie sich scheiden. Seine zweite Frau, die Engländerin, lief ihm ebenfalls weg. Erst nach zwei Jahren – immerhin. Bei beiden Scheidungen war Sex der Grund.
„K“ hatte immer Probleme beim Sex. Er konnte mit keiner Frau richtig schlafen. Der Sexualakt verwandelte sich für ihn stets in ein Höllenszenario. Immer, wenn er es wieder versuchte, ist er gescheitert. Er ist noch später beschnitten worden als ich, erst mit 13 Jahren. Zwei Jahre musste er nachbehandelt werden. Ein Stück der Vorhaut ist zurückgeblieben. Er musste erneut beschnitten werden, zweimal. Danach war die Wunde entzündet. Er litt auch beim Urinieren, ein Brennen hat ihn sein Leben lang begleitet. Es ist diese Angst, die wie ein Graveur seine Marke hinterließ, in seiner verstümmelten Seele.
Und es ist diese Angst, die bei ihm zu einer Art Kastration geführt hat. Dabei sprach „K“ nie von sich selbst. Er sprach natürlich im Namen von vielen beschnittenen Männern. Viele, die spät beschnitten worden sind, leiden unter dem gleichen Gefühl. Sie fühlen sich wie kastriert, weil sie mit eigenen Augen sehen mussten, wie man ihre männliche Zone verletzt, ja verstümmelt. Es ist ein nicht zu überwindendes Trauma bei vielen, über das sie nicht offen reden wollen/können/dürfen/sollen.
So diktiert es ihnen auf jeden Fall die herrschende Doppelmoral der Religion, seien sie Muslims, seien sie Juden. Deshalb reden sie weder über dieses Erlebnis noch über Sexualität. Früher musste man vier Frauen heiraten, um zu beweisen, dass man ein richtiger Mann ist. Heute entdeckte man die Waffe als Ersatz für seine kastrierte Sexualität. Gewalt und Sexualität gehören zusammen.
Putin hat einmal den muslimischen tschetschenischen Kämpfern mit der Beschneidung ihrer Glieder, ihres ganzen Glieds, gedroht, als Strafe! „Wir haben die besten Chirurgen, die ihre Penisse abschneiden würden“, sagte er in einer im Fernsehen übertragen Pressekonferenz nach einer Bombenexplosion. Auf der anderen Seite denken Selbstmordattentäter an die 77 Jungfrauen im Paradies.
„K“ gehörte aber nicht zu dieser Sorte von Macho-Angebern. Er suchte nach einer „richtigen“ Lösung: Er dachte, eine ägyptische Frau zu heiraten, würde seinem Problem ein Ende bereiten. Ägyptische Frauen werden oft beschnitten, auch wenn hier das Wort Beschneidung nicht unbedingt zutrifft. Man muss eher sagen: Ägyptische Frauen werden verstümmelt. Und je mehr man in den Süden fährt, desto grausamer wird die Verstümmelung.
In Südsudan, in Somalien oder in Äthiopien erleben die Mädchen sehr früh diesen grausamen Eingriff. Dies zeigt auch, dass Beschneidung nicht nur mit Religion zu tun hat, bei den Frauen zumindest. Denn selbst christliche Frauen werden in Ägypten beschnitten.
Was die Beschneidung von Jungs betrifft, so gibt es keine Stelle im Koran, die dies empfiehlt. Ich weiß nicht, wie es bei den Juden ist. Interessant ist aber, dass auch dies eine von vielen Gemeinsamkeiten der beiden verfeindeten Religionen ist, wie etwa das Verbot von Schweinefleisch, oder – bei den Orthodoxen – die Heirat mehrerer Frauen oder das Tragen eines Kopftuches. Es sind Rituale, die zu alten Zeiten gehören, durch die die Religionen über Menschen Macht gewinnen.
Im „wahren“ Leben ist aber alles anders. Mein Freund „K“, der dachte, eine Lösung gefunden zu haben, bekam ein neues Problem, die Verstümmlung der Genitalien seiner Frau. „Stell es dir vor“, sagte er mir, „du siehst jemanden ohne Nase oder mit drei Ohren.“ Es hat eine Weile gedauert, bis er sich an die neue Lage gewöhnt hatte. Auf meine Frage, wie es denn weitergehen werde, antwortete er, „Wir sind durch ein Verbrechen vereint“, deshalb müsse die Ehe halten.
Ich weiß nicht, welche Auswirkung das Urteil des Kölners Gerichts haben wird, aber ich weiß, dass die Religionen mit Klauen und Zähnen kämpfen werden, um weiter ihre Grausamkeiten an den Menschen auszuüben. Es geht für sie um ihre Macht. Letztendlich ist es ihnen egal, welche Verstümmlung sie in den Seelen von Millionen von Menschen hinterlassen, und es spielt keine Rolle, ob die Menschen dies freiwillig über sich ergehen lassen oder nicht. Die Macht der Religionen wird weiter regieren.