kurier.at, 17.7.2012
Ein Kölner Gericht beurteilt die religiöse Beschneidung als strafbare Körperverletzung. Nun erreicht die Streitfrage Österreich.
Cahid Kaya leidet unter Schlafstörungen. Die führt der gebürtige Türke, der in Vorarlberg aufwuchs, auf seine Beschneidung im Volksschulalter zurück: „Ich wurde von meinen Eltern in ein Krankenhaus gebracht und dort alleingelassen, ohne zu wissen, was mit mir passiert. Das ist für ein Kind sehr belastend. Auch später in der Schule war ich immer der Markierte.“
Noch heute fühle er sich manchmal ausgeliefert – was ihm schlaflose Nächte bereitet. Kaya will helfen, anderen Kindern dieses Schicksal zu ersparen. Gemeinsam mit der Initiative gegen Kirchenprivilegien machte er Dienstag gegen die Beschneidung von Kindern mobil – womit die deutsche Debatte endgültig nach Österreich übergeschwappt ist.
Auslöser für die Anfang Juli entbrannte Diskussion ist ein Spruch des Landgerichts Köln, das Ende Juni entschied, die Beschneidung von Buben aus religiösen Gründen sei als Körperverletzung strafbar. Der Spruch erzürnte Vertreter des Judentums und des Islams, wo Beschneidungen aus religiösen Gründen an Knaben vorgenommen werden. Die deutsche Bundesregierung kündigte an, rasch Rechtssicherheit zu schaffen.
In Österreich sieht die zuständige Justizministerin dafür keinen Anlass: „Wir sehen derzeit keinen Änderungsbedarf der Gesetzeslage, da durch Beschneidung kein Straftatbestand erfüllt wird“, heißt es auf KURIER-Anfrage aus dem Justizministerium. Beschneidung bleibt weiter straffrei.
Anders sieht das die Wiener Opfer-Anwältin Eva Plaz. Das türkische „Beschneidungsopfer“ Cahid Kaya hat sie gebeten, seinen Fall juristisch zu untersuchen. „Wir werden uns ansehen, ob wir eine Klage gegen die Republik Österreich einbringen“, sagt Kaya. Schließlich hätten seine Eltern nach der geltenden Rechtslage gehandelt.
Plaz ortet keine eindeutige Rechtslage. Dem Recht auf freie Religionsausübung stehe das Recht des Kindes auf „körperliche und geistige Unversehrtheit“ gegenüber. „Die Kernfrage ist, ob die Beschneidung von Knaben dem Wohl des Kindes dient oder ihm abträglich ist.“ Zum Zeitpunkt der Beschneidung wären vor allem die psychologischen Auswirkungen auf das Kind von den Eltern nicht abschätzbar. Eine Klage wegen leichter Körperverletzung gibt sie durchaus Chancen – „aber ich gehe davon aus, dass das letztlich vor dem EU-Gerichtshof entschieden wird.“
Tradition?
Von einer „Unruhestiftung“ durch eine aufgebauschte Diskussion spricht hingegen Fuat Sanac, Präsident der islamischen Glaubensgemeinschaft in Wien. „Was ist dann mit Piercings in den Ohren oder Brustvergrößerungen?“, fragt Sanac, der den Einwand der Körperverletzung nicht gelten lässt. Beschneidungen bei Muslimen seien keine Pflicht, aber stark im Leben verhaftet: „Es geht um religiöse Freiheit, um eine tausendjährige Tradition.“
„Das ist eine Fortsetzung der Kopftuchdebatte“, kritisiert auch die einstige Wiener ÖVP-Gemeinderätin Sirvan Ekicii, die sich mit dem Thema wissenschaftlich beschäftigt hat. In Österreich werde das sehr hygienisch durchgeführt. „Bei einem Verbot würden die Menschen in die Illegalität oder in ihre Herkunftsländer ausweichen.“
Pro: „Bestandteil unserer Identität“
Der Präsident der israelischen Kultusgemeinde, Oskar Deutsch, hat die Diskussion rund um das Beschneidungsverbot genau verfolgt. Im KURIER-Gespräch äußert er sich über …
… Beschneidungsdebatte: „Wir nehmen diese sehr gelassen. Man könnte sagen, dass die Debatte von fundamentalistischen Anti-Religiösen angetrieben wird. Es ist ein bedauernswerter europäischer Trend.“
… Kölner-Urteil: „Was mir am Urteil nicht gefällt, ist die Provokation. Denn da der Arzt freigesprochen wurde, war keine Revision möglich. Und damit auch nicht, das Beschneidungsverbot richtigzustellen.“
… Jüdische Tradition: „Beschneidungen sind klarer Bestandteil der religiösen Identität. Sowohl bei Juden als auch bei Muslimen. Es wird aber kein Druck von uns ausgeübt, sich beschneiden zu lassen.“
… Religionsfreiheit: „Das Recht auf freie Religionsausübung steht in der österreichischen Verfassung. Das entspricht auch dem Strafgesetzbuch, wonach Beschneidungen nicht sittenwidrig sind.“
… Körperverletzung: „Da könnte man doch auch Zahnoperationen oder Piercings hernehmen. Ich habe selbst bei ein paar Hundert Beschneidungen zugesehen. Sie dauern nur wenige Sekunden.“
Contra: „Das ist Körperverletzung“
Mit einem Volksbegehren gegen Kirchenprivilegien will die gleichlautende Initiative des Werbers Niko Alm etwa gegen die Themen sexueller Missbrauch oder Steuervorteile von Kirchen vorgehen. Nun widmet er sich auch dem Thema Beschneidung. Alm über …
… Beschneidung: „Nüchtern betrachtet ist Beschneidung eine Körperverletzung. Sie wird ohne medizinische Indikation durchgeführt.“
… Mögliche Klagen: „Wir haben nicht die Absicht zu klagen. Das sollen die Betroffenen selbst machen. Wir wollen lediglich die Problematik der Beschneidung aufzeigen.“
… Politische Folgen: „Unsere politische Forderung ist, dass sich die Politik ordentlich mit dem Thema auseinandersetzt und nicht ein spontanes Gesetz beschließt, um die Tradition zu rechtfertigen.“
… Religionsfreiheit: „Die ist in Österreich zum Glück selbstverständlich. Religionsfreiheit bedeutet aber auch, dass Religion nicht an einem ausgeübt wird.“
… Selbstbestimmung: „In der Sache wollen wir erreichen, dass die Beschneidung nur mit Einwilligung der Betroffenen passiert. Dazu muss die Einwilligungsfähigkeit des Kindes gegeben sein. Ich denke, das ist frühestens ab einem Alter von 14 der Fall.“
Beschneidungen: Worum es geht
Beschneidung (Zirkumzisioin) bedeutet die teilweise oder vollständige Entfernung der männlichen Vorhaut.
Motive Meistens aus religiösen Gründen, seltener aufgrund medizinischer Indikation (zum Beispiel bei Verengung der Vorhaut). Besonders bei Juden und Muslimen hat die Beschneidungen von Buben im Kindesalter seit Jahrtausenden Tradition.
Medizinischer Aspekt Medizinischer Vorteil kann etwa die Senkung des Risikos der HIV-Übertragung sein. Nachteile können Orgasmusprobleme der Männer sowie Schmerzen der Frauen beim Geschlechtsverkehr sein.
Zahlen Nach Schätzung der Weltgesundheitsorganisation ist etwa jeder dritte Mann beschnitten. Rund 70 % davon sind Muslime, nur knapp 1% Juden.